Alte Liebe

Novellette von Paul Bliß
in: „Der Fortschritt” vom 04.07.1895


Sie hatte ihm wieder abgeschrieben. Jetzt war es das dritte Mal, daß sie ihn sitzen ließ. Nun hatte er aber genug von der Geschichte!

Wüthend zerknüllte er den rosafarbenen Briefbogen und warf ihn in den Papierkorb. — So, nun hatte die Sache ein Ende!

Dann ging er ein paar Mal im Zimmer auf und ab, und kurz entschlossen setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb ihr den Brief, der ihr den Abschied gab — kurz und bündig, daß er zu alt sei, um sich so etwas bieten zu lassen. So, nun war die Sache aus. Gottlob! — Er athmete auf, als er den Brief zur Besorgung auf die Post geschickt hatte.

Ordentlich leicht war ihm nun. Er setzte sich in den Schaukelstuhl und brannte sich eine neue Cigarre an.

So eine gute Cigarre wirkt doch wie ein Wunder. Und was Einem dabei alles durch den Kopf geht! Er lächelt, wie er so in bunter Folge Alles im Geiste an sich vorüberziehen läßt, was die letzten Jahre ihm gebracht.

Es war doch immer dasselbe! Auf jede Hoffnung folgte die Täuschung; — himmelstürmende Pläne und hinterher der moralische Katzenjammer. Endlose Arbeit und kaum ein nennenswerther Erfolg. Manchmal ein wenig Liebe, aber gleich darauf auch schon die Ernüchterung. Eitelkeit, Selbstsucht und Falschheit, das war allemal das Resumee-

Und während er immer tiefer versinkt in die Grübelei, senkt sich die Dunkelheit draußen nieder; schwere regengrauen Wolken ziehen herauf, und ein feuchter Nebel hüllt Alles in seine Schleier ein.

Er drinnen aber merkt nichts davon. Er sitzt in seinem wohldurchheizten Zimmer, in seinem bequemen Schaukelstuhl und raucht tapfer weiter, so daß ihn eine dichte Wolke von bläulichem Dampf umschwebt.

Die Wirthin hat die Lampe gebracht. Und eben, als der erste helle Schein in's Zimmer fiel, blieb sein Blick haften an einem Gegenstande, der fast unscheinbar in der Ecke hing.

Eine weiße Seidenbandschleife, wie man sie im Katillon angesteckt bekommt, ein schlichtes Ding, schon vergilbt und bestaubt; nur an den beiden Bandenden blitzt es goldig, da ist mit Goldfaden sein Vorname eingestickt und das Datum des Tages, an dem er die Schleife bekommen hat.

Ein neues Bild steht vor seiner Seele . . . . Lucie! An sie hatte er lange nicht mehr gedacht. Von ihr hatte er einst die Schleife bekommen, damals — vor fünf Jahren. Wo war es doch gleich gewesen? Richtig, auf dem Ball im Klubhause — da hatte er sie zum letzten Mal gesehen — zum letzten Mal! Denn sie hoffte, daß er sich da erklären würde; er aber dachte garnicht daran, sich schon zu binden, und seit jenem Tage sah er sie denn nicht wieder. Sie hatte ihn geliebt, das fühlte er, aber darum gerade war er ihr seitdem ausgewichen.

Eigentlich war's schade. Sie war doch ein nettes Mädel, und hatte all' das, was er an einer Frau gern leiden mochte — eine Zeit lang hatte er sich wirklich eingebildet, daß er sie liebe, und sich ganz mit Gedanken an eine Verbindung beschäftigt, dann aber brach der alte Uebermuth, die Tollheit der Jugendkraft in ihm durch: schon heirathen mit fünfundzwanzig Jahren? Der Himmel soll ihn bewahren! Nein, erst das Leben genießen und dann, mit dreißig Jahren vielleicht, in das Ehenest kriechen, früher gewiß nicht! Und schließlich war's ja wahrscheinlich schon rein unmöglich, denn sein Einkommen war damals noch so knapp, daß er kaum selbst ferig werden konnte. Also Grund war genug dagewesen.

Aber schade war's doch, daß er sie so vollständig aus den Augen verloren hatte. Jetzt bedauerte er es wirklich, denn gerade in diesem Augenblick empfand er, daß dies tolle Leben, wie er es in den letzten Jahren geführt, nun seinen Reiz für ihn verloren hatte; jetzt machte es sich in ihm deutlich wie eine Ermattung bemerkbar, und er merkte, daß eine leise Sehnsucht in ihm aufkeimte; der Wunsch nach einem ruhigen, stillen Glück.

Er war ein Narr gewesen damals, ein ganz dummer Junge, daß er sich so betragen hatte.

Um seine wohlige Stimmung war es nun geschehen. Er stand auf, warf die Cigarre fort und ging um Zimmer auf und ab.

Draußem rieselte ein feiner Regen nieder, eintönig, unaufhörlich. Nicht zehn Schritte weit konnte man sehen. Alles in Nebel gehüllt.

Er setzte sich am Fenster nieder, schloß die Augen und träumte weiter. Natürlich wieder von ihr. Dies Bild verließ ihn jetzt nicht mehr, Lucie, immer nur sie! Jahre lang hatte er gar nicht an sie gedacht, war sie ihm todt und vergessen gewesen, und jetzt, in seiner Einsamkeit, da er sich wirklich verlassen fühlte, jetzt mit einem Mal lebte Alles wieder auf, und mehr denn je packte ihn nun die Sehnsucht, diesen blonden Kopf an seine Brust drücken zu können und diese frischen, rothen Lippen zu küssen, die damals — Alles, Alles wurde wieder wach, und ihr Bild, so wie er sie damals zum letzten Mal gesehen hatte, so schwebte es ihm jetzt wieder vor — ein rechter Narr war er doch wirklich gewesen!

Aber — ob er die Beziehungen nicht wieder anknüpfen konnte. Warum nicht? Noch war sie ja frei, das wußte er. Also wenn sie ihn jetzt noch mochte, jetzt war er bereit.

Lange kämpfte er mit sich, erwog alle Eventualitäten genau, aber schließlich siegte die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und so setzte er sich denn an den Schreibtisch und versuchte einen Brief zu Stande zu bringen.

Leicht wurde es ihm nicht, aber endlich brachte er es doch fertig, so daß er mit dem Inhalt zufrieden sein konnte. Der ganze Brief war natürlich sehr taktvoll, ausgesucht höflich, ab und zu auch ein Bischen verliebt, so daß man zwischen den Zeilen lesen konnte, im Ganzen aber sehr reservirt, damit sie nicht sagen konnte, er sei ihr nachgelaufen. — —

Tagelang wartete er auf Antwort. Er hatte sie um eine Zusammenkunft gebeten, und nun brannte er vor Ungeduld, ob sie zusagen und kommen würde .....

Endlich am vierten Tage kam ein Briefchen von ihr. Mit zitternden Händen reißte er dem Umschlag ab und durchfliegt die paar Zeilen.

Sie wird kommen! . . . . Weiter las er nichts im ersten Augenblick. Alles flirrte und flimmerte vor seinen Augen, die Buchstaben verschwammen, und nur das Eine verstand er, daß sie kommen und er sie wiedersehen würde!

Um sechs Uhr wollte sie da sein in der kleinen Konditorei an der Ecke der Koch- und Friedrichstraße.

Nun macht er Toilette, sorgfältig, sehr sorgfältig. Er weiß, wieviel der erste Eindruck in solchem Falle ausmacht; darum zieht er sich geschmackvoll an, elegant, aber nicht geckenhaft. Dann kauft er einen Strauß Maiblumen — die hatte sie immer am liebsten gehabt.

Als er sich auf den Weg macht, fühlt er, wie ihm das Herz pocht. Er spricht sich Muth zu: — lächerlich! Man war doch kein dummer Junge mehr, hatte doch wahrlich schon genug durchgemacht mit dem schönen Geschlecht, also vorwärts! Ein Hausnarr, dem es vor einem unschuldigen Mädchen bangt!

Aber soviel er sich auch mit starken Worten zuredete — die Gedanken kehrten immer wieder zu ihr zurück — der blonde Kopf mit den blauen Augen, mit den dunklen Brauen umschwebt ihn immer wieder. So sah sie aus, als er sie damals verlassen hatte, und so sollte er sie nun wiederfinden.

Er war zuerst da. Um so besser, so hatte er Zeit, sich zu sammeln und einen Feldzugsplan zu entwerfen.

Zuerst trank er ein Glas Selterwasser. — Ruhe, nur Ruhe wollte er haben. Dann bedachte er noch einmal Alles genau, und immer wieder kam er zu dem Entschluß: sie soll, sie muß meine Frau werden, damit ist uns Beiden geholfen.

Da sah er sie kommen — hörbar laut pochte sein Herz. Er sprang auf, ging ihr entgegen und begrüßte sie.

Sie kehrte dem Lichte den Rücken zu, so daß er ihren Gesichtsausdruck nicht gleich erkennen konnte. Als sie ihm aber ihre Hand gab, fühlte er, wie sie zitterte, und er sah, wie in ihren Augen die Thränen standen, wie sie die Zähne zusammenbiß, um nicht laut aufzuschluchten — sie liebte ihn also noch immer, so wie damals!

Armes Kind, dachte er, und ein tiefes Mitleid ergriff ihn. Er meinte in ihrem Gesicht zu lesen, wieviel sie gelitten haben mußte, gelitten um seinetwillen. Die Frische der Farbe war fort, ein paar tiefe Falten um den Mund und eine stille Wehmuth in den Zügen. — Armes Kind, dachte er immer wieder. und immer größer wurde sein Mitgefühl für sie.

Und wie nun der volle Schein der Gaskrone auf ihr Gesicht fiel, da erstarb etwas in ihm: die Illusion. Alles, was er vorher gedacht und geplant hatte, war wie weggewischt. Mitleid war es, was er für sie empfand, Mitleid, keine Liebe, das fühlte und wußte er nun genau.

Rathlos saß er ihr gegenüber und suchte nach Worten. Er hatte rein vergessen, daß fünf Jahre dazwischen lagen, seitdem er sie nicht gesehen. Und er fühlte, daß wieder die alte Oede in ihm Platz gewann, nun er diese seine letzte Hoffnung dahinsinken sah.

Nach der kleinen peinlichen Pause, die der Begrüßung gefolgt war, fand sie zuerst die Beherrschung wieder. Sie dankte herzlich für die schönen Blumen und erkundigte sich dann, wie es ihm in der langen Zeit ergangen sei.

Allmählich fand auch er seine Haltung wieder, sprach über das Wichtigste seiner Erlebnisse und ließ sich dann von ihr erzählen, wie sie einsam gelebt, von aller Welt zurückgezogen, nur immer ihrer Pflicht getreu.

Erstaunt sah er sie an. Sie sprach von einer Pflicht, die sie hatte, der sie lebte — oh! mit einem Male wurde ihm leicht — so hatte er also durch dieses Zusammenkommen keine Verpflichtung ihr gegenüber, so brauchte sie nicht zu glauben, daß er einen Verkehr wieder anbahnen wollte, so war man nur zusammengekommen, um wieder einmal zu plaudern, als gute alte Freunde sich der Vergangenheit zu erinnern, denn wenn sie einer Pflicht zu leben hatte, dann konnte sie doch nicht an's Heirathen denken, und dann brauchte er sich keinen Vorwurf zu machen, Hoffnungen in ihr erweckt zu haben, die er nicht mehr erfüllen konnte! — Er athmete auf, wie von einer Last befreit; denn nun war es ihm ganz klar, daß seine Heirathspläne eitel Thorheit gewesen waren. Er hatte gehofft, in der Jugendgeliebten das Weib zu finden, das ihn glücklich machen konnte. So, wie er sie damals vor fünf Jahren verlassen hatte, in der Blüthe ihrer sieghaften Jugend, so hatte sie ihm noch immer vorgeschwebt. Und in diese Gestalt, in dieses Gebilde seiner Illusion hatte er sich verliebt. Darum allein hatte er um eine Zusammenkunft gebeten. Aber Narr, der er war, zu vergessen, daß fünf lange Jahre dazwischen lagen! Nichts von alledem, was ihm noch von ihr vorschwebte, fand er wieder. Welke Züge und ein vergrämtes Gesicht — da schwand sein sonniges Zukunftsbild, er fühlte wieder die Leere in seiner Brust, die Einsamkeit seiner Seele und die Bitterniß seines verfehlten Lebens.

Minutenlanges Schweigen.

Er sah, wie sie mit einem Entschluß rang, und je länger er sie ansah, desto mehr faßte ihn das Mitleid, das dieses arme Kind ihm einflößte.

Mit keinem Wort erwähnte man die Vergangenheit, die Zuneigung, die sie einander näher gebracht hatte. Von beiden Seiten fühlte man, daß diese Wunden nicht mehr aufgerissen werden durften, daß man sich innerlich fremd geworden. — Es war zu spät . . . . .

Dann sprachen sie nur noch über Alltägliches. Jeder schien vergessen zu haben, was ihn herbeigeführt hatte, und schließlich erfuhr er von ihr, daß sie jetzt bei einem alten Onkel lebe, den bis an sein Ende zu warten und zu pflegen jetzt ihre Pflicht sei.

Nach einer halben Stunde gingen sie von einander, sagten sie Lebewohl und hatten Beide die Empfindung, daß nun Alles zwischen ihnen zu Ende sei — für immer!

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